Wir alle haben die Möglichkeit, unsere inneren Ratgeber oder Ratgeberinnen aufzurufen. Jung selber hatte intensive und sehr persönliche Erfahrungen mit der Aktiven Imagination (nachzulesen u.a. in „Erinnerungen, Träume, Gedanken“ von C.G. Jung). Er selbst hat sich die Methode also nicht ausgedacht, sondern hat sie sozusagen gefunden, hat sie an sich selbst erlebt in einer Zeit, als er unter einer ungeheuren inneren Spannung stand, die ausgelöst wurde von der Trennung von Freud. Er wurde von Phantasien überschwemmt, die ihn äußerst ängstigten und wo er nur noch die Möglichkeit sah, mit ihnen in einen direkten Kontakt zu treten. Das geschieht so, dass wir zu einem Affekt oder zu einem starken Gefühl ein Bild kommen lassen, es sozusagen übersetzen in eine Bildsprache. Auf der symbolischen Ebene kommunizieren wir dann mit diesen Gestalten oder Figurationen, die uns von innen her begegnen.

Ein Beispiel: Da ist eine 42jährige Frau mit einem ungeheuren starken Anspruch an sich, dem sie jedoch nie gerecht werden kann. Nie macht sie etwas richtig, findet sie selbst, maßregelt und kritisiert sich ständig. Während einer Aktiven Imagination bekommt diese strenge innere Stimme durch das Verbildlichen die Gestalt eines „steinernen Patriarchen“, als Büste auf einem Sockel stehend, allerdings mit sehr lebendigen, jedoch stechenden Augen. Die Umsetzung in dieses Bild macht es der Frau jetzt möglich, mit diesem in einen direkten inneren Dialog zu gehen, so schrecklich dieser zuerst ist. Frau M. wiederum begegnet eine Seekuh. Durch einen innerlichen Dialog mit dieser gewinnt Frau M. allmählich spürbar mehr Mütterlichkeit aus der Tiefe des Unbewussten, die sie an sich selbst nur wenig gekannt hatte.

Die Vorgehensweise ist also, dass ich bewusst und konzentriert den Blick nach innen richte. In der Imagination dann nehme ich direkt Kontakt mit meinen inneren Gestalten auf und verhalte mich dabei auch so, wie ich mich im täglichen Leben verhalten würde. Das Ich soll in seinem Ich-Kompetenz-Rahmen bleiben. Dies charakterisiert den Dialog zwischen dem Ich-Bewusstsein und dem Unbewussten. Wenn ich reale Personen aus meiner Außenwelt nehme (z.B. Ehepartner, Mutter, Vater, Freunde…), dann ist es nicht das Unbewusste und wenn ich mein Ich phantastisch überlagere (z.B. wenn ich fliege oder mich am Grund des Meeres aufhalte), bin es nicht mehr ich. So achte ich also darauf, dass mir in der Aktiven Imagination keine bekannten Personen aus der Außenwelt begegnen. Wenn doch, so verabschiede ich diese freundlich und sage, dass es jetzt um etwas anderes geht.

Am besten lässt sich die Aktive Imagination in der Abgrenzung zur passiven Imagination erklären. Diese geschieht unwillkürlich und meistens auch unbewusst. Unsere inneren Bilder begleiten uns in Form von Tagträumen, vielfach überlassen wir uns innerlich unseren Phantasiebildern, vor allem wenn es uns langweilig ist, wir uns nicht auf eine bestimmte Sache konzentrieren müssen. Als passive Imagination zählen auch geführte Imaginationen, wie wir sie in verschiedenen therapeutischen Schulen vorfinden, wie z.B. beim Katathymen Bilderleben oder auch in der Verhaltenstherapie. Diese Fähigkeit zum Phantasieren, die Fähigkeit, sich von etwas ein Bild zu machen war es aber schließlich, was Jung nutzte und zu einem wirksamen Mittel der Selbstbegegnung einsetzte, die uns mit unserem schöpferischen Potenzial „aktiv“ verbindet und unseren seelischen Reifungsprozess vorantreibt. Dazu Jung selbst:

„Bei der Aktiven Imagination kommt es darauf an, dass Sie mit irgendeinem Bild beginnen… Betrachten Sie das Bild und beobachten Sie genau, wie es sich zu entfalten oder zu verändern beginnt. Vermeiden Sie jeden Versuch, es in eine bestimmte Form zu bringen, tun Sie einfach nichts anderes als beobachten, welche Wandlungen spontan eintreten. Jedes seelische Bild, das Sie auf diese Weise beobachten, wird sich früher oder später umgestalten, und zwar aufgrund einer spontanen Assoziation, die zu einer leichten Veränderung des Bildes führt. Ungeduldiges Springen von einem Thema zum anderen ist sorgfältig zu vermeiden. Halten Sie an dem einen von Ihnen selbst gewählten Bild fest und warten Sie, bis es sich von selbst wandelt. Alle diese Wandlungen müssen Sie sorgsam beobachten, und Sie müssen schließlich selbst in das Bild hineingehen: Kommt eine Figur vor, die spricht, dann sagen auch Sie, was Sie zu sagen haben, und hören Sie auf das, was er oder sie zu sagen hat. Auf diese Weise können Sie nicht nur Ihr Unbewusstes analysieren, sondern Sie geben dem Unbewussten die Chance, Sie zu analysieren. Und so erschaffen Sie nach und nach die Einheit von Bewusstsein und Unbewusstem, ohne die es überhaupt keine Individualität gibt.“ (Jung, C.G., Briefe1946-1955, Bd.2, S 76).

Dies dient letztlich der Individuation, so wie Jung sie verstanden hat, nämlich als einen psychischen Reifungs- und Wandlungsprozess. Damit meint er das Herauswachsen der Individualität aus den kollektiven Normen und Strukturen, dies jedoch nicht in einem Gegensatz zu den Kollektivnormen, sondern in der Auseinandersetzung damit. Ziel des Individuationsprozesses – den er im Grunde als einen natürlichen Entwicklungsprozess sieht -, ist es, dass wir im Laufe des Lebens immer mehr zu dem oder zu der werden, die wir wirklich sind, immer echter, immer mehr wir selbst, immer stimmiger mit uns selbst. Der Individuationsprozess ist ein konsequentes Fragen nach „mir selbst“ in der Beziehung zu meinem Unbewussten, meinen Mitmenschen und meiner Umwelt.

Individuation ist letztlich also ein Prozess und ein Ziel. Als Ziel ist Ganzwerdung eine Utopie, die wir nie erreichen, die uns jedoch einen Weg vermittelt. Und dieser Weg im Sinne eines Prozesses erfüllt unser Leben mit Sinn. Für Menschen, die tiefer nach sich fragen oder die gar ihren Lebenssinn verloren haben, diesen aber mit ihrem bewussten Ich vergeblich am Suchen sind, können ihn über die konsequente Durchführung einer Aktiven Imagination – manchmal über Monate oder gar Jahre hinweg – wieder finden.